Leah Stange

„and genuinely turning around […]: ‚Is anyone else having some kind of breakdown here?‘“, sagte Emma Watson in einem Interview als sie beschrieb, wie es sich anfühlt, im Studium zu erfahren, dass ‚Geschichte‘ von den Menschen geschrieben wird, von denen sie nun mal geschrieben wird: männliche, weiße Sieger. Und genau diese Erfahrung durfte auch ich in meinem Masterstudium in Forschung und Entwicklung in der Sozialpädagogik / Sozialen Arbeit an der Universität Tübingen machen. Über eine Dauer von fünf Semestern durfte ich lernen, dass Wissen nicht neutral ist und demnach alle damit verbundenen Kontexte auch nicht: die Uni nicht, mein Studium nicht, die Bücher in der Bibliothek nicht, nicht mal der Flyer zur Beschreibung meines Studiengangs. All das ist in größere, globale Kontexte eingebunden und wir sind mittendrin. Wir tragen diese Strukturen mit, wir reproduzieren sie. Diese Tatsache erwischte mich jeden Tag auf’s Neue so sehr, dass ich entschied, meine Masterarbeit darüber zu schreiben. Nachfolgend werde ich darlegen, was ich dabei herausfinden konnte. So viel sei bereits vorweggenommen: auch ich hatte meinen mental breakdown.

Hegemoniale Strukturen – 1. Semester

In meinem ersten Semester war ich im Rahmen eines Seminars dazu aufgerufen, das Buch Postkoloniale Theorien von Ina Kerner zu lesen. Das Buch beschreibt unter Bezugnahme auf Autor*innen wie bspw. Frantz Fanon und Edward Said eindrücklich, inwiefern die Strukturen, in denen ‚wir‘ leben, auf ein koloniales Erbe zurückzuführen sind. Es wird deutlich, dass es ganz klare Gründe dafür gibt, warum wir z.B. bestimmte Autor*innen nicht kennen oder auch im universitären Kontext nie von ihnen hören.

Definition von „Hegemonie“

Unter Hegemonie versteht man prinzipiell Vorherrschaft. Eine Wissenshegemonie zeigt sich daran, dass bestimmtes Wissen vorherrschend ist, also insgesamt den Diskurs dominiert. Es bedeutet auch, dass durch dieses hegemoniale Wissen andere Wissensformen und -systeme ausgegrenzt werden: sie werden beherrscht und aus dem Diskurs verbannt.

Die westliche Welt hat seit der Kolonialzeit eine globale Hegemonie, auch des Wissens, aufgebaut, in der nicht-westliche Ideen, Strukturen und eben auch Autor*innen keinen Platz haben und darüber hinaus nach und nach ausgerottet werden. Dazu zählt die Auslöschung indigenen Wissens über z.B. Landwirtschaft oder Medizin, aber auch das Verdrängen bestimmter Sprachen, Religionen und ganzer Kulturen.

Die koloniale Idee der westlichen Überlegenheit manifestiert sich bis heute in der imperialen Lebensweise, die im globalen Norden gepflegt wird und im Zuge derer Menschen insbesondere des Globalen Südens für den westlichen Lebensstil ausgebeutet werden. Darüber hinaus hinterlässt sie ihre Spuren auch in den Antworten auf Fragen wie „Wer darf sprechen?“ und „Wer wird gehört?“. In der Konsequenz werden bspw. an der Universität nicht-westliche Autor*innen nicht sichtbar – sie dürfen nicht sprechen. Dementsprechend werden ihre Perspektiven auf die Welt oder auf bestimmte Themen, wie beispielsweise in meinem Fall Bildung, nicht sichtbar. Dadurch bleibt der Diskurs z.B. an Universitäten nicht nur weiß und westlich und damit auch beschränkt, sondern reproduziert und bestätigt sich auch immer wieder selbst, sodass er auch nie infrage gestellt wird oder werden kann. Jeglicher nicht-westlicher Diskurs kommt gar nicht durch die hegemonialen Strukturen durch oder gegen sie an. Die Universität ist ein hermetisch abgeriegelter Ort – und ich als weiße, westlich sozialisierte Frau profitiere davon. Und all diese Erkenntnisse im ersten Semester – oje.

Wissen ist nicht neutral – 2. Semester

Mein zweites Semester steckte dann mitten in der Corona-Pandemie. Um das Beste aus der Situation zu machen, tauschten wir uns digital zu Donna Haraways neuem Buch Unruhig bleiben aus. Das hat mich einer wichtigen Erkenntnis näher gebracht: Wissen ist nicht neutral. Unser Kontext bestimmt fundamental unser Denken und damit auch das Wissen, das wir in diesen Kontexten generieren und weitergeben. Ich habe z.B. verstanden, warum ich mich als ostdeutsche Frau an einer westdeutschen Uni manchmal ziemlich fremd fühle. In so vielen Seminaren musste ich immer wieder betonen: Nein, 1980 können wir nicht von einem Gesamtdeutschland sprechen, weil es da noch gar kein Gesamtdeutschland gab. Meine Kommiliton*innen hatten jedes Recht dazu, irgendwann genervt von meiner Ossi-Keule zu sein. Wir waren in unterschiedlichen Kontexten aufgewachsen, andere (historische) Ereignisse hatten unsere Leben geprägt und so haben wir unterschiedliche Verständnisse von der Welt und damit unterschiedliches Wissen über die Welt entwickelt. Wenn die Wende für sie und ihre Familien keinerlei Bedeutung hatte, wie konnte ich dann verlangen, dass sie darüber genauso gut Bescheid wussten wie ich? Ich merkte: unser Wissen muss (politisch, lokal, historisch,…) verortet werden – es ist nicht neutral, nicht universal.

Nun habe ich mir die Frage gestellt: wenn sich innerhalb eines Landes schon unterschiedliche Wissenssysteme ausbilden, wie maßlos sollen dann die Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern sein, zwischen Globalem Norden und Globalen Süden, zwischen westlich und nicht-westlich. Das galt es herauszufinden, und zwar mithilfe der Harawayschen Lebensart: unruhig zu bleiben.

„Jasmin, ich bin kein FREAK!“ – 3. Semester

Das nächste Semester verlief weiterhin im Online-Modus und wurde begleitet von Corona-Winter typischer Tristesse. Unruhig bleiben war da also keine Schwierigkeit. Meine persönlichen Erfahrungen zum Thema Zugehörigkeit als Ostdeutsche in Westdeutschland wollte ich in einem Theaterstück verarbeiten. Dabei drang ich unerwartet tiefer in die Materie des hegemonialen Wissens ein. Als ich im Seminar diese Idee vorstellte, begegnete mir allgemeine interessierte Verwunderung, wurde jedoch auf die Forschungsmethode der Autoethnografie gestoßen, die für mein Vorhaben interessant sein könnte. Die Literaturrecherche ergab, dass meine Methode in Deutschland scheinbar keinerlei Anwendung findet, denn meine Literatur war beinahe ausschließlich aus dem US-amerikanischen Raum.

Definition von „Autoethnografie“

Die Autoethnografie ist sowohl Forschungsmethode als auch Forschungsprozess und Produkt des Prozesses. Mit der Autoethnografie werden die eigenen Erfahrungen (auto) hinsichtlich eines Themas oder innerhalb einer Kultur im weitesten Sinne (ethno) in den Mittelpunkt der Forschung gestellt und untersucht. Die Erkenntnisse werden in welcher Form auch immer verschriftlicht (grafie). Das können wissenschaftliche Texte sein, aber auch z.B. Theaterstücke. Mit diesem Ansatz bricht die Methode mit dem westlich tradierten Methodenkanon und findet deswegen immer wieder Einzug in dekoloniale Forschung.

Ich dachte jedoch nicht weiter darüber nach, sondern freute mich umso mehr, als ich auf den Forschungszweig der performativen Sozialwissenschaften stieß, der genau das abzudecken schien, womit ich mich beschäftigen wollte: mit der Verbindung aus Kunst und Wissenschaft. Als ich mein Projekt begeistert im Seminar vorstellte, wurde ich jäh auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: fragende Gesichter und ungläubige Nachfragen. Erst später wurde mir bewusst, woher diese Reaktionen kommen könnten: unsere Methodenlehre hat einen Bias. Im Studium lernen wir ganz bestimmte Methoden zur Untersuchung sozialer Phänomene kennen. Aber eben nur ganz bestimmte. Meine Arbeitsmethode der Autoethnografie gehörte da nicht dazu. Jetzt erklärte sich auch, warum die Literatur dazu v.a. englischsprachig war und warum ich vorher noch nie etwas von den performativen Sozialwissenschaften gehört hatte. Wissen ist nicht neutral, das zeigte mir dieser Moment nochmal ganz deutlich und ich dachte: Jetzt erst recht. Nach und nach fand ich Projekte, die ähnlich strukturiert waren wie meines und war erleichtert. Dieses Semester war mein persönlicher, akademischer Durchbruch und ein weiterer Schritt hin zur Dekolonialisierung meines Denkens. Das wäre ohne die Unterstützung von Freund*innen nicht möglich gewesen.

Postkoloniale Strukturen – 4. Semester

Aufgrund meiner Auseinandersetzungen mit Postkolonialität während der letzten Semester beschloss ich, darüber auch meine Masterarbeit zu schreiben.

Postkoloniale Strukturen zeichnen sich an verschiedenen Stellen im Studium ab. Zum einen werden sie darin deutlich, welche Stellen und Ämter mit wem besetzt sind und dementsprechend welche Perspektiven wie viel Macht zugesprochen bekommen. Zum anderen zeigen sie sich darin, wer überhaupt an der Universität studieren und arbeiten kann. Beide Ebenen wären für eine Masterarbeit zu umfangreich und ‚brenzlich‘ zu untersuchen gewesen, weswegen ich mich auf die dritte Ebene, die inhaltliche, fokussieren wollte. Diese wird auch coloniality of knowledge genannt: alles, woran sich die Kolonialität des Wissens abzeichnet, wird in den Blick genommen.

Ich untersuchte mein Modulhandbuch auf postkoloniale Strukturen, um dabei dekoloniale Potentiale herauszuarbeiten. Das heißt, ich überlegte, wie nach und nach die kolonialen Strukturen im Denken, in den Seminaren und im Studium abgebaut werden können. Auch hier bediente ich mich wieder der Autoethnografie: neben der Analyse der offiziellen Dokumente zum Studiengang verfasste ich eigene autoethnografische Texte, die meine Erfahrungen im Studium reflektieren. Basierend auf der Definition von coloniality of knowledge von Hoagland untersuchte ich mit Hilfe der Grounded Theory das Material. Die Kombination einer so etablierten Methode wie der Grounded Theory und einer weniger bekannten, dekolonialen wie der Autoethnografie erschien mir sehr fruchtbar für diese Auseinandersetzung.

Definition von „Grounded Theory“

Die Grounded Theory ist eine sehr etablierte sozialwissenschaftliche Forschung, mit der große Datenmengen zu einem Thema gesammelt, strukturiert und gedeutet werden. In verschiedenen Analyseschritten wird nach und nach eine eigenständige Theorie zu einem Thema entwickelt oder aber schon bestehende Theorien ergänzt. Entwickler der Methode sind Anselm Strauss und Barney Glaser.

Die Uni ist schon irgendwie auch ein komischer Laden – 5. Semester

Im Laufe der Analyse kristallisierten sich einige wesentliche Punkte heraus. Auf den Ebenen ‚Inhalt des Studiums‘, ‚Gestaltung der Seminare‘ und ‚Zusammenwirken von Inhalt und Form‘ können unterschiedliche Erkenntnisse gewonnen werden.

Zum einen wird auf der inhaltlichen Ebene deutlich, dass sich die offiziellen Dokumente mit expliziten Aussagen hinsichtlich postkolonialer Diskussionen und Diskursen sehr zurückhalten. Stets wird davon gesprochen, dass ein umfassendes und innovatives Verständnis von Forschung und Entwicklung in der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit gelehrt und gelernt werden soll. Das lässt sehr viel Interpretationsspielraum offen; es kann jedoch auch so gedeutet werden, dass es eine dekoloniale Perspektive auf Forschung braucht, um ein solches Verständnis zu entwickeln. In meinen autoethnografischen Texten mache ich deutlich, dass das Studium den Ansprüchen nicht immer gerecht werden konnte. Forschung und Entwicklung in der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit werden hinsichtlich des deutschen und westlich-dominanten Diskurses ausführlich beleuchtet. Es werden verschiedene Methoden gelehrt, die in der westlichen Forschungspraxis intensiv genutzt werden und dementsprechend im Studium dominieren. Auch werden spezifische Themen wie bspw. Bildung aus einer westlich dominanten Perspektive diskutiert und z.B. indigene Theorien oder Bildungstheorien aus dem Globalen Süden wie ubuntu finden kaum Platz in den Diskussionen.

Zum anderen werden auf der Ebene ‚Gestaltung der Seminare‘ ebenfalls koloniale Strukturen sichtbar. Diese äußern sich darin, dass der kognitiv-rationale Lern- und Lehrmodus in den Seminaren überwiegt. Wie im Modulhandbuch vorgesehen, kommen im Seminar mehrheitlich Textdiskussionen, Referate und schriftliche Ausarbeitungen zur Geltung. Die Idee, sich einem Gegenstand, einem Thema und Welt im Allgemeinen nur kognitiv nähern zu können, ist laut Hoagland ein koloniales Erbe in unseren Wissensstrukturen. Natürlich ermöglicht das Studium eigene Projekte, Gruppenarbeiten und das Erproben verschiedener Forschungsmethoden. Auch werden Kooperationen mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe eingegangen, eine Exkursion ist (außerhalb von Corona) immer vorgesehen und in einigen Seminaren werden Menschen der Zivilbevölkerung eingeladen. Dies zeigt, dass bereits erste Ansätze hinsichtlich eines breiteren Bildungs- und Lernverständnisses vorhanden sind. Es wird jedoch auch deutlich, dass bspw. körperlich-emotional ausgerichtete Arbeitsmethoden wenig Anwendung finden.

Abschließend kann hinsichtlich der Verbindung aus Inhalt und Form gesagt werden, dass das Studium durchaus einige Ambivalenzen aufzeigt. Wenn in den postkolonialen Diskurs gegangen wird, dann bleibt die Diskussion auf einer inhaltlichen Ebene. Selbst wenn über postkoloniales Denken im Seminar diskutiert werden, ändert sich die Form des Seminars nicht. Es bleibt bei einer kognitiv-rational ausgerichteten Strukturierung des Seminars. Darüber hinaus wird mehrheitlich Literatur verwendet, die eine weiße, cis-hetero, männliche, westliche Perspektive aus dem Globalen Norden widerspiegelt. Die Verbindung zwischen Inhalt und Form fehlt also. Die Universität ist manchmal schon ein komischer Laden. Das ist durchaus problematisch, denn damit werden die postkolonialen Strukturen nicht durchbrochen und die Diskussion wird eher zum Selbstzweck. Dabei soll sie progressiv Veränderungen anregen.

Deswegen entwickle ich aktuell eine Art Leitfaden zur Dekolonialisierung von Seminaren am IfE, mit dem ich hoffe, diese Veränderung zumindest ein wenig mehr in Schwung zu bringen und den Diskurs zu stärken. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt.

Also: Yes, Emma, we are all having some kind of break down here. Aber dazu ist die Uni im besten Falle ja vielleicht auch da: Erfahrungen machen, Grenzen kennenlernen, erweitern, Projekte durchführen, wachsen. Die Uni hat das Zeug dazu, ein dekolonialer Raum zu werden, wenn wir energisch und offen weiterhin alles infrage stellen. Es lohnt sich.