Wie schweres Wasser uns die Arbeit erleichtert


1935 erhielt James Chadwick, ein englischer Physiker, den Nobelpreis für die Entdeckung des Neutrons. 84 Jahre später bin ich Praktikantin in einer Arbeitsgruppe am Institut Laue-Langevin und beschäftige mich täglich mit den Möglichkeiten, die uns Neutronen bieten.

Famke Bäuerle
Abb. 1: Modell eines Instrumentbauteils.

Die Forschung mit Neutronen ist ein Gebiet der Wissenschaft, welche mit großen Forschungseinrichtungen den Einblick in molekulare Prozesse ermöglicht. Dieser spezielle Blick bietet die Möglichkeit, auch biologische Systeme von einer ganz anderen Seite zu betrachten. Während fast jeder schon vom CERN in Genf gehört hat, sind andere Forschungseinrichtungen, welche auch Teilchenphysik betreiben, längst nicht so bekannt. So auch das Institut Laue-Langevin in Grenoble in Frankreich (ILL) – ein Forschungszentrum, welches die stärkste Neutronenquelle der Welt betreibt.

1932 entdeckte James Chadwick das Neutron. Der britische Physiker studierte bei Ernest Rutherford, dem Vater der Kernphysik. Während Rutherford schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts an einem Modell des Atoms arbeitete, wurde das Bild, welches wir heute von einem Atom haben, erst durch Chadwicks Entdeckung geprägt: Der Kern des Atoms besteht nicht wie zunächst angenommen aus einer Kombination von positiv geladenen Protonen und negativ geladenen Elektronen, sondern aus ungeladenen Neutronen und positiv geladenen Protonen.

Was sind eigentlich Neutronen?

Die Geschichte des Neutrons startet mit der des Atoms in der griechischen Antike. Etwa 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung lebte in Abdera, einer antiken Thrakischen Stadt, der griechische Philosoph Demokrit, oder auch Demokrit von Abdera. Zusammen mit seinem Lehrer Leukipp begründete er den Atomismus; ebenjene Lehre, die viele hundert Jahre später Wissenschaftler*innen dazu inspirieren sollte, die Bausteine der Materie als Atome zu bezeichnen.

Die Vorstellung des atomaren Aufbaus der Materie konnte aber erst im 20. Jahrhundert wissenschaftlich nachgewiesen werden. Wir wissen heute, dass Atome im Gegensatz zu ihrem Namen, der von atomos, also Griechisch für „unteilbar” kommt, doch teilbar sind. Atome bestehen aus weiteren elementaren Bausteinen: Elektronen, Protonen und Neutronen. Das Neutron war der letzte dieser Bausteine, der experimentell nachgewiesen werden konnte. Die Entdeckung des Neutrons machte das neue Bild des Atoms komplett: Der Kern eines Atoms besteht aus Neutronen und Protonen um den sich die Elektronen bewegen.

Es war einmal eine Reaktion

Wie viele wissenschaftliche Errungenschaften ist auch die Geschichte des Neutrons als Forschungsobjekt eng mit einer Kriegsgeschichte verbunden. Zehn Jahre nach der Entdeckung des Neutrons war es dann Enrico Fermi, der als erster mit einer kontrollierten Kettenreaktion Neutronen erzeugte und diesen Prozess reproduzieren konnte. Seine Forschung wurde hinter dem Namen „Manhattan Project” versteckt und sollte zur Entwicklung der Atombombe beitragen. 1943 wurde in Tennessee, USA, dann der erste Experimentalreaktor konstruiert. Dieser sollte hauptsächlich Plutonium zur Produktion von Atomwaffen erzeugen. Der Bau des Reaktors führte aber auch zur Konstruktion des ersten Neutronenspektrometers. Hier wurden Atomkerne untersucht, die zum Bau der Atomwaffen verwendet werden sollten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Reaktor nicht abgeschaltet, sondern mit einem sogenannten Zwei-Achsen-Spektrometer erweitert, das bereits Streumuster verschiedenster Proben aufzeichnen konnte.

Wie so oft in der physikalischen Forschung gab es auch bei der Neutronenstreuung zunächst einen theoretischen Hintergrund, der Verhaltensweisen und Eigenschaften bereits einige Jahre vor der experimentellen Umsetzung vorhersagte: Eine bestimmte Art von Neutronen hat genau die richtige Energie, um wie Röntgenstrahlen an Materie gestreut zu werden. Zusätzlich dazu wurde den Neutronen auch ein magnetisches Moment zugesprochen, mit dem es möglich ist, nicht nur atomare Strukturen, sondern auch magnetische Strukturen aufzuklären.

Abb. 2: Das ILL von oben.

Von der Idee zur Strahlzeit

Jedes Experiment, das am ILL (Institut Laue-Langevin) an einem oder mehreren Instrumenten durchgeführt wird, muss zunächst genehmigt werden. Der Reaktor, der die Neutronen erzeugt, welche für die Experimente gebraucht werden, läuft nicht dauerhaft, sondern in Zyklen. Jeder Zyklus hat zwischen 48 und 60 Tagen. An Tagen, an denen der Reaktor läuft, werden dann Neutronen durch die Neutronenleiter zu den Instrumenten geliefert.

In meinem Praktikum habe ich mich hauptsächlich mit folgendem System beschäftigt: Eine Lösung aus einem Antikörper in Wasser zu der wir ein auch in Wasser gelöstes Polymer hinzugefügt haben. Zum Hintergrund der Forschung gehört, dass der Antikörper, der für diese Experimente verwendet wurde, geeignete physikalische Eigenschaften hat. Wichtig ist auch, dass beispielsweise Impfungen nichts anderes sind als hochkonzentrierte Lösungen von Antikörpern. Will man effizient mit solchen hochkonzentrierten Lösungen arbeiten, so ist es wichtig, die grundlegenden physikalischen Eigenschaften der Systeme zu kennen. Bei der Neutronenforschung handelt es sich um ebendiese Grundlagenforschung: Es gibt also kein spezifisches Ziel (wie z. B. die beste Konzentration für eine Impfung zu ermitteln), es geht vielmehr darum die zugrunde liegenden physikalischen Prozesse zu verstehen. Dabei werden im Kontext nicht nur Antikörper betrachtet, sondern auch andere Proteine wie zum Beispiel β-Lactoglobulin welches ein Molkeprotein ist.

Abb. 3: Vereinfachtes Prinzip eines Neutronenexperiments: Ein einfallendes Neutron (grün) wird am Protein, welches in Bewegung ist, gestreut und ändert daraufhin seine Richtung um einen bestimmten Streuwinkel. Das gestreute Neutron (rot) kann jetzt mittels eines Detektors sichtbar gemacht werden. Das hier gezeigte Protein ist β-Lac- toglobulin, die Struktur wurde der „Protein Data Bank” entnommen.

Das Ziel der Experimente war, mehr über das Phasenverhalten des Systems aus Antikörper und Polymer herauszufinden. Das Phasenverhalten eines Systems zeigt, wie das System bei verschiedenen Konditionen reagiert: Wasser beginnt beispielsweise zu kochen, wenn die Temperatur über 100 °C erhöht wird und ändert den Aggregatzustand von flüssig zu gasförmig. Die Untersuchung flüssiger Systeme (z. B. Proteinlösungen) mittels Neutronenstreuung ist kompliziert. Man kann nicht einfach herkömmliches Wasser verwenden, da dieses ungünstige Streusignale produzieren würde. Deshalb verwenden wir Deuteriumoxid, sogenanntes ‘schweres Wasser’. Dieses erzeugt andere Streusignale, welche die Ergebnisse weniger verfälschen. Wir führen dann Streuexperimente durch, welche Interferenzen der Neutronen mit der Materie ausnutzen, an der gestreut wird: Analog erfolgen so auch Strukturbestimmungen von Viren, bzw. deren Bestandteilen, etwa auch beim Virus SARS-CoV-2.

Haben wir unser Protein, hier ein Antikörper, in schwerem Wasser gelöst, so gilt es, als Vorbereitung auf die Strahlzeit sinnvolle Bedingungen zu finden, die auch ein erfolgreiches Sammeln von Daten versprechen. Das Phasenverhalten unseres Systems kann nur dann mit Neutronen beobachtet werden, wenn sich in unserer Probe mehrere Phasen bilden. Wir ermitteln also zunächst passende Konzentrationen für unsere Proteinlösung und die Polymerlösung. Mithilfe des Experiments wollen wir verstehen, wie die molekularen Dynamiken innerhalb der Probe aussehen. Ein grundlegendes Verständnis dieser Dynamiken kann helfen, hochkonzentrierte Lösungen von Antikörpern besser handhaben zu können.

Abb. 4: IN16b mit den ILL-Mitgliedern Alain, Laurent und Markus.
Abb. 5: Blick auf eine der Leiterhallen des ILL. Hier befinden sich die Neutronenleiter, die die Neutronen zu den Experimenten bringen und die Instrumente an denen die Experimente durchgeführt werden.

Von der Strahlzeit zur Publikation

Ein Experiment mit Neutronen produziert eine unglaublich große Menge an Daten, etwa die Winkeländerung durch die Streuung eines Neutrons an einem Protein. Diese sind so komplex, dass einfache Tabellen nicht ausreichen, um alle Aspekte festzuhalten. Es gibt sogenannte scientific data formats, die sich darauf spezialisieren, ebenjene Daten zu speichern und zu organisieren.

Zunächst werden die Daten auf ein solches standardisiertes Format reduziert. Von dort beginnt der Prozess der Auswertung. Als allererstes bietet es sich an, die Daten zu visualisieren: Manche Trends können schon mit dem bloßen Auge erkannt werden, wenn man das eigene System bereits kennt. Ausgehend von einer Hypothese wird dann versucht, bestimmte physikalische Modelle an die Daten anzulegen (zu „fitten”). Wenn wir die Bewegung eines Proteins in einer wässrigen Lösung untersuchen, so können wir versuchen, das Protein als Kolloidteilchen zu betrachten und die Gleichung für die Brownsche Molekularbewegung, eine bestimmte Art von Bewegung kleiner Teilchen in Flüssigkeiten und Gasen, an die Bewegung des Proteins anzulegen. Ausgehend vom Erfolg dieses Unterfangens ergibt sich dann der nächste Schritt: Wenn die Gleichung gut zur Bewegung passt, so können wir sagen: „Proteine in wässrigen Lösungen verhalten sich wie kleine Teilchen in Flüssigkeiten”. Oder: „Brownsche Molekularbewegung lässt sich auf Proteine in wässrigen Lösungen anwenden”. Wenn die Gleichung nicht passt, müssen wir uns auf die Suche nach einem neuen Modell machen. Und dies ist nur der Prozess für eine Art Protein in Lösung; im Realfall ist unser System komplizierter. Wir fügen Salze hinzu oder betrachten mehrere Proteine auf einmal. Dann kommt es zu Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Komponenten des Systems, die nicht immer mit bestehenden Modellen vereinbar sind. An gewissen Punkten kann sich also die Notwendigkeit ergeben, neue Modelle zu konstruieren, die das Verhalten der Proben erklären können. Bedeutend ist hierbei oft, eine Kombination aus bestehenden Modellen zu bilden oder Prozesse, die bereits aus anderen Forschungsgebieten bekannt sind, auf unsere Systeme zu übertragen.

Haben wir am Ende eine zufriedenstellende Erklärung für die Daten und somit für das Verhalten der Probe gefunden, so ist der letzte Schritt, all dies in einer Publikation zusammenzufassen. Und dann geht es an das nächste Proposal, an die nächste Runde Tests, an weitere Literaturrecherche und weitere Strahlzeiten mit noch mehr Daten.

Noch ein paar Begriffe:

Neutronenstreuung – Forschung mit Neutronen, bei der Neutronen auf Materie geschossen werden, um danach anhand von entstehenden Streumustern Hinweise auf Abstände und Bewegungen innerhalb von Proben zu erhalten.
Strahlzeit – Die Zeit, in der wir unsere Experimente an einer (Neutronen-)Forschungseinrichtung durchführen können.
System – Im Kontext der Forschung hier ist mit System eine gewisse Zusammensetzung einer Probe gemeint: das verwendete Protein, hier ein Antikörper, und das dazugefügte Salz oder Polymer.
Phasenverhalten – Wenn Proteinlösungen mit Salzen oder Polymerlösungen gemischt werden, bilden sich je nach Temperatur und den Konzentrationen der Lösungen unterschiedliche Phasen. Diese Phasen können sehr dickflüssig (dichte Phase) oder sehr dünnflüssig (verdünnte Phase) sein.
Molekulare Dynamik – Wechselwirkungen zwischen Atomen und Molekülen und die sich daraus ergebenden räumlichen Bewegungen.
Kolloidteilchen – Teilchen die in einem Medium (z. B. Wasser) sehr fein verteilt sind.
Thermische Neutronen – Die Klassifikation von Neutronen erfolgt anhand ihrer Energie. Für die Neutronenstreuung werden thermische Neutronen verwendet deren kinetische Energie – Bewegungsenergie – weniger als 100 meV (Milli-Elektronenvolt) beträgt. Damit besitzen sie Wellenlängen im Bereich von Abständen zwischen Atomen und sind für Streuexperimente brauchbar.



Zum Weiterlesen

Jacrot, Bernard. Des neutrons pour la science: histoire de l'Institut Laue-Langevin, une coopération internationale particulièrement réussie. EDP sciences, 2012, ISBN 2-86883-878-2.

Bilderverzeichnis

Copyright: ©2019 Laurent Thion ecliptique.com, The following adaptable focusing guide model, the BATS choppers and the GaAs analyser have been built and financed by a German BMBF collaborative research grant between ILL and FAU Erlangen-Nürnberg ( 2013--present ).