Welche institutionellen Präventionsmaßnahmen gibt es gegen sexualisierte Gewalt in pädagogischen Einrichtungen?


Sichere Orte für Kinder und Jugendliche: Das sollen pädagogische Einrichtungen leisten. Doch Wunsch und Realität liegen weit auseinander. Pädagogische Einrichtungen sind immer wieder Schauplatz von sexualisierter Gewalt, wie ein Blick zu Odenwaldschule oder Bruderhaus Diakonie beweist. Was muss passieren, um diese sexualisierte Gewalt von pädagogischen Fachkräften gegen ihre Schutzbefohlenen zu verhindern?

Franka Billen

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Das kann für manche Menschen ein schwieriges Thema sein. Falls dies bei dir der Fall ist, sei bitte achtsam beim Lesen.

Bevor hierauf geantwortet werden kann, muss angegeben werden, welche Einrichtungen zu pädagogischen Institutionen zählen, nämlich Kindergärten, Jugendhäuser, Wohngruppen sowie Kinder- und Jugendpsychiatrien. All diese Einrichtungen unterscheiden sich in ihrem Tagesablauf, ihren Zielsetzungen und ihren Adressat*innen, also den zu betreuenden Kindern und Jugendlichen. Doch sie haben eines gemeinsam: Der Umgang zwischen Fachkräften und Adressat*innen ist durch eine Asymmetrie gekennzeichnet. Im Idealfall können die Adressat*innen auf die Kompetenz der Fachkraft vertrauen, die die Verantwortung für ihre Schutzbefohlenen übernimmt. Eine solche Machtasymmetrie hat in pädagogischen Einrichtungen grundsätzlich ihre Berechtigung. Doch Fachkräfte können ihre Machtfülle gegenüber den ihn anvertrauten Adressat*innen auch missbrauchen.

Abb. 1: Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.), Zahlen und Fakten Forsa-Umfrage zu Wissensstand und Informationsbedarf zum Thema „Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ (2022), S. 2.

Dies ist in der Odenwaldschule geschehen, einem Internat, in dem zwischen 1965 und 1998 eine von den lehrenden Reformpädagogen sexualisierte und pädophile Gewalt gegen etliche Schüler ausgeübt wurde, gedeckt durch den pädophilen Haupttäter und damaligen Schulleiter, Gerold Becker. Beckers Gewaltverbrechen ermöglichten im Lehrerkollegium eine Kultur der sexualisierten Gewalt und kamen erst durch den 1998 verfassten Brief eines Schülers langsam ans Licht, der den Trieb des Schulleiters zum Opfer fiel.

Abb. 2: Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.), Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann (2011), S. 49.

Auch in der Bruderhaus-Diakonie, einer maßgeblich durch Spenden finanzierten kirchlichen Institution, standen gewaltsame Übergriffe in den fünfziger und sechziger Jahren an der Tagesordnung, wie eine 2013 veröffentlichte Studie offenbart. Obgleich hier hauptsächlich von physischer und emotionaler Gewalt die Rede ist, wurden auch sexuelle Übergriffe offenbart, den die Heimkinder unter anderem in Reutlinger Einrichtungen ausgesetzt waren.

Diese Fälle sexualisierter Gewalt in pädagogischen Einrichtungen sind beispielhaft dafür, wie die ungleiche Machtverteilung die Adressat*innen zu Opfern und die betreuenden Fachkräften zu Täter*innen machen kann. Dabei spielen den Täter*innen je nach Einrichtung verschiedene Umstände in die Hände. So können sich Kleinkinder in Kitas oft noch nicht hinreichend ausdrücken, um einen Missbrauch mitzuteilen. In stationären Institutionen sind die Adressat*innen durch angeordnete Isolation, wie Ausgangssperren oder Internetverbote, besonders gefährdet, da sie nur wenig Kontakt zur Außenwelt und somit auch nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, sich mitzuteilen und Hilfe zu suchen.

Abb. 3: PSM - The Path to offense (der Weg zum Übergriff), aus: Tschan, Werner: Nachhaltige Prävention sexualisierter Gewalt in Institutionen, in: Willems, Ferring (Hrsg), Macht und Missbrauch in Institutionen – Interdisziplinäre Perspektiven auf institutionelle Kontexte und Strategien der Prävention. Springer Fachmedien, Wiesbaden (2014), S. 184.

Täter*innen und Mittäter*innen

Außerdem agieren Täter*innen in pädagogischen Einrichtungen nicht unabhängig, sondern innerhalb der Struktur der Einrichtung. Deshalb sollten wir als Erziehungswissenschaftler uns auch auf die Mittäter*innen konzentrieren, also Fachkräfte, die sexualisierte Gewalt vertuschen und Täter*innen decken. Dies war auch bei der Odenwaldschule der Fall, als der Nachfolger des gewalttätigen Schulleiters sich bemühte, dessen kriminelle Vergehen an Kindern und Jugendlichen geheim zu halten. Dabei liegt es in der Verantwortung aller pädagogischer Fachkräfte, für die Sicherheit ihrer Schutzbefohlenen zu sorgen und das impliziert, sowohl das eigene Handeln als auch das der Kolleg*innen kritisch zu reflektieren.

Institutionen müssen sich ihrer Verantwortung stellen

Deswegen ist es wichtig, in der Präventionsarbeit die gesamte Institution im Blick zu haben. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, als Institution, ob staatlicher, privater oder kirchlicher Art, sexuellem Missbrauch präventiv entgegenzuwirken. Ein eher indirekter Präventionsansatz ist das Etablieren eines partizipativen Klimas. Adressat*innen sind dann über ihre Rechte aufgeklärt und haben ein Mitbestimmungsrecht über die Regeln innerhalb der Einrichtung. In einem solchen Klima ist es Adressat*innen möglich, Grenzüberschreitungen zu thematisieren und Gehör zu finden.

Abb. 4 Rau, Thea; Liebhardt, Hubert: Partizipationsmöglichkeiten und Beschwerdemanagement, in: Fegert, Kölch, König, Harsch, Witte, Hoffmann (Hrsg.), Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen – Für die Leitungspraxis in Gesundheitswesen, Jugendhilfe und Schule. Springer Fachmedien, Ulm (2018), S. 220.

Ein Schutzkonzept als institutionelle Präventionsmaßnahme

Auch die Erstellung eines Schutzkonzeptes ist möglich. Der ehemalige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, beschreibt ein präventives Schutzkonzept als ein „Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Absprachen sowie Haltung und Kultur einer Organisation.“

Wichtig ist, dass ein Schutzkonzept keine einfach abzuhakende Checkliste ist, denn es muss stets auf die Einrichtung zugeschnitten sein. Bei der Erstellung eines spezifischen Schutzkonzeptes werden die Risikofaktoren der Adressat*innen analysiert, wie ein sehr junges Alter, körperliche und geistige Behinderungen oder psychische Probleme. All dies macht Adressat*innen vulnerabel. Außerdem sollten pädagogische Fachkräfte, Leitungspersonen der Institution und Adressat*innen zu Beginn der Erarbeitung eines Schutzkonzeptes gemeinsame Aufgaben und Ziele der Einrichtung festzulegen.

Ein wichtiger Bestandteil des Schutzkonzeptes ist die sogenannte Gefährdungsanalyse. Hierbei ist die Miteinbeziehung der Adressat*innen von großer Bedeutung. Adressat*innen und pädagogische Fachkräfte diskutieren auf Augenhöhe potentiell gefährliche Situationen und risikobehaftete Regeln innerhalb der Einrichtung. Anschließend arbeiten alle gemeinsam daran, die Einrichtung sicherer zu machen.

Abb. 5: Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.), Handbuch Schutzkonzepte sexueller Missbrauch- Befragungen zum Umsetzungsstand der Empfehlungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ - Bericht mit Praxisbeispielen zum Monitoring 2012 – 2013 (2013), S. 44.

Rot, Gelb, Grün: Das Ampelsystem als Präventionsmaßnahme

Bei der Umsetzung eines Schutzkonzeptes kann das Ampelsystem helfen, wie es etwa die Vitos Rheingau-Klinik umgesetzt hat. In Gesprächen zwischen pädagogischen Fachkräften, Leitungspersonen und Adressat*innen wird erläutert, welches Verhalten unbedenklich, potentiell grenzüberschreitend oder eindeutig grenzüberschreitend ist. Dieses Verhalten wird in die Ampel-Kategorien Grün, Gelb und Rot aufgeteilt. So haben Adressat*innen die Sicherheit, übergriffiges Verhalten als solches erkennen und benennen zu können. Zugleich erfahren Fachkräfte durch das Ampelsystem Handlungssicherheit im Umgang mit den Schutzbefohlenen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass pädagogische Institutionen anfällig für sexualisierte Gewalt bleiben werden. Dies liegt an mehreren Faktoren, wobei der strukturelle Aspekt besonders wichtig ist. Gerade bezüglich der eigenen Einrichtung haben viele Fachkräfte einen „blinden Fleck“ und blenden gefährliche Strukturen teils bewusst, teils unterbewusst aus. Dabei ist das Wissen um die Allgegenwart sexualisierter Gewalt die beste Prävention. Wir als Gesellschaft müssen nicht nur (potentielle) Täter*innen in die Pflicht nehmen, sondern ganze Institutionen. Es sollte nicht darum gehen, nur einzelne „schwarze Schafe“ auszuschließen. Stattdessen müssen pädagogische Einrichtungen missbrauchsfördernde Strukturen aufbrechen und abbauen, etwa durch Supervision und Schutzkonzepte. Außerdem müssen pädagogische Fachkräfte ihren Adressat*innen eine Stimme verleihen und ein partizipatives Klima innerhalb der pädagogischen Einrichtungen gestalten. Nur so können Gewalttaten, wie an der Odenwaldschule und der Bruderhaus-Diakonie, verhindert werden. Und nur auf diese Weise ist es möglich, eine positive Beziehung zwischen Fachkräften und Adressat*innen herzustellen, ohne dabei den potentiellen Machtmissbrauch durch die asymmetrische Beziehung zu fördern.

Was ist die UBSKM?

UBSKM steht kurz für „Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“. Dieses Amt existiert seit der Aufdeckung eines kirchlichen Missbrauchsskandals 2010 und ist beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt. Zu den Aufgaben der Unabhängigen Beauftragten zählt die Information, Sensibilisierung und Aufklärung über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. In diesem Rahmen werden auch regelmäßig Studien und Beiträge veröffentlicht, welche als Quellen für diesen Artikel gedient haben. Außerdem ist die Unabhängige Beauftragte Ansprechperson für Personen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren haben und nun Anspruch auf Hilfen haben.

Durch dieses Amt soll der Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie derjenigen, die bereits Opfer geworden sind, also langfristig verbessert und sichergestellt werden. Aktuell wird das Amt von der Journalistin und systemischen Beraterin, Kerstin Claus, besetzt, davor war Johannes-Wilhelm Rörig als Unabhängiger Beauftragter tätig.



Zum Weiterlesen

J. Fegert, M. Kölch, E. König, D. Harsch, S. Witte, U. Hoffmann (Hrsg.), Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen. Springer, Berlin (2018)

H. Willems, D. Ferring (Hrsg.), Macht und Missbrauch in Institutionen – Interdisziplinäre Perspektiven auf institutionelle Kontexte und Strategien der Prävention. Springer Verlag, Wiesbaden (2014)

M. Baldus, R. Utz (Hrsg.), Sexueller Missbrauch in pädagogischen Kontexten – Faktoren. Interventionen. Perspektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden (2011)