Die Goldene Kammer in St. Ursula zu Köln
Von vielen Besucherinnen und Besuchern wird sie als bizarres Gruselkabinett angesehen. Diese Haltung zeigt wie fern uns heute der Reliquienkult des 17. Jahrhunderts ist – denn hinter der Konzeption der Kammer steckt mehr.
Ich öffne die schwere, mit Eisenbeschlägen verzierte Holztür und schreite zwei niedrige Stufen hinauf. Um nicht zu stolpern, halte ich den Blick auf den Boden gerichtet. Sofort steigt mir ein seltsam süßlicher Geruch in die Nase. Etwas verwundert hebe ich den Kopf und kann schnell dessen Ursache ausmachen: Die Wände der Kammer sind bis zum Gewölbe mit Knochen übersäht. Unzählige menschliche Schädel, in kostbare Stoffe gehüllt, reihen sich in hölzernen Regalen aneinander. Ergänzt wird dieses morbide Arrangement durch viele, farbig gefasste Büsten beiderlei Geschlechts. Selig lächeln sie mich an.
So erging es mir bei meinem ersten Besuch der Goldenen Kammer in der romanischen Basilika und ehemaligen Damenstiftskirche St. Ursula zu Köln. Die Gestaltung der Kammer zeichnet sich durch die enorme Anzahl an Gebeinen sowie die Art ihrer Präsentation aus und ist in dieser Hinsicht einzigartig. Besonders der Umgang mit den als heilig verehrten Gebeinen verwunderte mich. Einerseits waren sie – wie ich es häufig gesehen hatte – in kostbare Stoffe gehüllt oder in Behältnissen verborgen. Andererseits wurden sie jedoch auch als blanke Knochen an den Wänden zu Ornamenten zusammengefasst. Ich fragte mich, was der Grund für eine solch außergewöhnliche Konzeption war und welche Raumnutzung sie begünstigte. Für die Untersuchung war eine Auseinandersetzung mit dem zur Zeit der Einrichtung der Kammer gepflegten Reliquienkult unerlässlich.
Reliquienkult
Bei Reliquien handelt es sich um materielle Träger des irdischen Daseins Heiliger, hauptsächlich um ihren Körper, darüber hinaus aber auch um Dinge, die aus ihrem Besitz stammen und von ihnen berührt wurden. Diesen Gebeinen oder Objekten wurde große Kraft und Bedeutung zugesprochen, sie stellen eine Verbindung zwischen dem vergänglichen, diesseitigen Leib des Heiligen und seiner ewigen Existenz im Jenseits her. Voraussetzung für den Reliquienkult war die Kenntnis der Heiligenlegenden und somit der Vita des entsprechenden Fürsprechers vor Gott. Im volkstümlichen Verständnis führte dieser Glaube dazu, Reliquien als Träger übernatürlicher Kräfte zu betrachten und sie in Notzeiten um Hilfe zu ersuchen. Besonders in Kirchenräumen waren sie häufig in Statuen oder Bildern eingefasst, denen sie eine entsprechende Aura verliehen. Über figürliche Reliquiare, also beispielsweise Reliquienbehälter in Form von menschlichen Körperteilen wie Arm- oder Büstenreliquiare und ihre Legitimation schreibt der Kulturwissenschaftler und Historiker Stefan Laube:
„Wer wollte entscheiden, ob der Betrachter nun über das Bild oder die Partikel verzehrend meditierte? […] Die Reliquie wurde in das Bild einbezogen, sie heiligte dadurch das Bild, während sich das Bildsujet auf die heilige Person und damit die Reliquie bezog“. Als unscheinbares, gestaltloses und oftmals auch unattraktives Fragment bedurfte die Reliquie einer ästhetischen Vermittlung durch das Reliquiar. Dies konnte durch ein mannigfaltiges Zeichen- und Bildangebot erreicht werden und sprach die sinnlichen Begehren der Gläubigen an. Zunehmend trat das heilige Gebein gegenüber seinem häufig prunkvoll gestalteten Behälter in den Hintergrund. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts kritisierten die praktizierte Heiligenverehrung scharf. Ihr Unmut äußerte sich sogar in sogenannten Bilderstürmen, bei denen Bilder, Skulpturen und Reliquien im sakralen Raum zerstört wurden. Um auf die Forderungen der Reformation zu reagieren, wurde das Konzil von Trient (1545–1563) einberufen. Hier beschloss die katholische Kirche unter anderem, an der bisherigen Heiligen- und Reliquienverehrung festzuhalten. Besonders die Jesuiten, Kapuziner und Franziskaner unternahmen Anstrengungen, die alten Traditionen wiederaufleben zu lassen, so auch den Ursulakult. In diesem Kontext ist die Neukonzeption der Goldenen Kammer zu sehen.
(Laube 2011, S. 52)
Die Goldene Kammer
Hierbei handelt es sich um einen rechteckigen, von einem Kreuzrippengewölbe überdeckten Raum im südwestlichen Teil der Kirche. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Verena Hegenmüller stiftete der Reichshofrat Johann Baptist Crane die finanziellen Mittel zum Bau dieser frühneuzeitlichen Reliquienkapelle. Ihre Vorgängerin, die mittelalterliche camera aurea, war für die Aufbewahrung der zahlreichen Heiltümer zu klein geworden. Am 16. September 1644 konnte die Goldene Kammer geweiht werden. Die Ausstattung umfasst an allen vier Seiten Wandregale, die – teilweise offen, teilweise hinter Glas verschlossen – eine Vielzahl an Reliquienbüsten sowie menschlicher Häupter zeigen (Abb. 1, 2 und 3). Die einzelnen Fächer werden durch ein barockes, goldgefasstes Schnitzwerk verziert, welches einerseits Assoziationen einer Rahmung weckt, andererseits jedoch alle Regale im Raum miteinander verbindet. Unterbrochen wird diese Struktur nur durch eine Aussparung für die Tür an der Nordseite sowie für den Altar im Osten (Abb. 4). In der Westwand stehen zwei römische Steinsarkophage. Beide sind vollständig mit weiteren Skelettteilen gefüllt. Ebenso enthalten viele der Büsten noch immer Gebeine. Insgesamt 118 figürliche Reliquiare und 671 Schädel werden in der Goldenen Kammer aufbewahrt und präsentiert. Als ich im Sommer 2019 vor Ort die hier abgedruckten Aufnahmen machte, waren leider einige Objekte entnommen. Seit Jahren werden die Reliquiare, die Stoffhüllen sowie die immobile Ausstattung nach und nach restauriert.
Alle vier Schildwände der Gewölbezone sind dicht mit Gebeinen überzogen, welche in ausdrucksvoller Weise Ornamente und Buchstabenfolgen formen (Abb. 5 und 6). Ihre Anordnung erfolgt in jeweils neun übereinanderliegenden Registern. Weitgehend wurden gleiche Skelettteile, wie etwa Bein-, Wirbel- oder Beckenknochen zu eigenständigen Ornamenten zusammengefasst. So bilden beispielsweise Wirbelknochen Rosettenformen und Armknochen sind zu Spinnennetz- oder Fischgrätenmustern arrangiert. An der östlichen Schildwand sind die Gebeine zu einer Bittformulierung angeordnet:
„MARIA / S URSULA PRO NOBIS ORA / S ETERIUS ORA PRO NOBIS / JESUS CORONA MARTIRUM.“
Auf Deutsch bedeutet dieser Aufruf:
„Maria. Heilige Ursula, bete für uns. Heiliger Etherius, bete für uns. Jesus, kröne das Martyrium.“
Die Heilige Ursula und ihre Gefolgschaft der 11.000 Jungfrauen
Die Goldene Kammer dient zugleich der Unterbringung wie auch der Zurschaustellung zahlreicher Reliquien aus der Gefolgschaft der Heiligen Ursula. Der Legende nach war Ursula die Tochter des Königs von Britannia und sollte Ätherius, den Sohn des Herrschers von Engelland heiraten. Als fromme Christin wollte sie der Vermählung nur unter ihren Bedingungen zustimmen. Sie forderte zehn Jungfrauen sowie tausend Mägde für jede von ihnen wie auch für sich selbst. Mit diesem Gefolge wünschte sie drei Jahre lang auf dem Seeweg zu reisen und ihre Begleiterinnen zu weihen. In dieser Zeit sollte sich ihr zukünftiger Ehemann zum christlichen Glauben bekennen. Ätherius akzeptierte ihre Forderungen und ließ sich bald schon taufen. Über den Verlauf der Reise schlossen sich ihr auch Männer, beispielsweise Bischöfe oder der Papst Cyriakus, sowie weitere Frauen an. Ein Engel erschien der Königstochter, der ihr verkündete, sie werde während ihrer Rückkehr von Rom in Köln verweilen und das Martyrium erleiden. Als Ursula und ihre Gefährtinnen und Gefährten die Stadt am Rhein erreichten, fanden sie diese von den Hunnen belagert. Das Nomadenvolk überfiel die Reisegesellschaft und ermordete alle, bis auf die Königstochter selbst. Sie wollte der Hunnenfürst aufgrund ihrer Schönheit verschonen und ehelichen. Doch Ursula verschmähte ihn und wurde daraufhin mit einem Pfeil durchschossen. So erlitt sie, gemeinsam mit ihren Reisegefährtinnen und -gefährten, das Martyrium zu Köln.
Die St. Ursula Basilika wurde auf einem römischen Gräberfeld errichtet, auf welchem vom 1. bis zum 4. Jahrhundert Bestattungen stattfanden. Dem römischen Brauch entsprechend lagen an den Ausfallstraßen jenseits der Stadtmauern mehrere solcher Gräberfelder. Im Mittelalter, in der Hochzeit der Reliquienerhebungen, wurde dieser Bereich um die Ursulakirche als ager Ursulanus bezeichnet. Mehrere Grabungskampagnen brachten entsprechend viele Gebeine zu Tage, was die Legende um die Heilige Ursula und ihre Gefolgschaft stützte und weiter formte. Als Reliquien wurden sie in der Goldenen Kammer gesammelt und verehrt.
Ein Ort der Todesmeditation?
Bei dem Versuch die Goldene Kammer kulturgeschichtlich einzuordnen, vergleicht die bisherige Forschungsliteratur sie mit ähnlich eingerichteten Räumen. So finden sich gewisse Gestaltanalogien zu frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern, welche die Vorstufe unserer heutigen Museen sind. Ebenfalls werden Parallelen zu sogenannten Ossuarien gesehen. Das sind meist überdachte Stätten in der Nähe von Friedhöfen, an welchen Gebeine aufbewahrt werden. Es handelt sich hierbei nicht um die Überreste heiliggesprochener Personen, sondern um Skeletteile gewöhnlicher Menschen. Eingerichtet wurden Ossuarien häufig an Orten mit wenig Platz für Erdbestattungen oder dort, wo ein sehr kalksteinhaltiger Boden die Verwesung der Knochen verhinderte. Unbeachtet bleibt bei diesen Vergleichen allerdings die sakrale Funktion der Goldenen Kammer. Offenbar diente der Raum zur Aufbewahrung und Präsentation des reichen Reliquienschatzes von St. Ursula. Daher liegt es nahe, der Goldenen Kammer die Funktion einer Schatzkammer zuzuschreiben. Darüber hinaus ist sie als Ort der Heiligenverehrung eine besondere Andachtskapelle: In ihr wurden Gottesdienste gefeiert, beispielsweise durch die Kölner Jesuiten. Ebenso lud sie die Angehörigen des Konvents zur persönlichen Meditation ein.
Die Neukonzeption der Goldenen Kammer erfolgte während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648). Wie ein gewaltiges memento mori wirkt vor allem die Knochenornamentik an den Schildwänden: „Denke daran, auch du wirst Sterben.“ Für einen guten Tod riefen Gläubige die Heilige Ursula an. Ignatius von Loyola, der Begründer des Jesuitenordens, empfahl bereits in seinen Exercitia spiritualia (1548) die Todesmeditation. Seine Nachfolger ergänzten diese Anleitungen über die Jahre hinweg, sodass der Kommentar zu Loyolas Schriften von 1687 rät, im Dunkeln und unter Betrachtung eines Schädels zu meditieren. Die dadurch erzeugte morbide Stimmung sei dienlich für ein entsprechendes Gebet. Skelettteile wurden demnach als Hilfsmittel zur Steigerung der Andacht genutzt. Es ist durchaus denkbar, dass die Goldenen Kammer als ein Ort der meditatio mortis konzipiert wurde. Eine aktive Mitgestaltung durch die Kölner Jesuiten, die eine enge Beziehung zum Ursulastift unterhielten, erscheint ebenso plausibel, da die Gebeine an den Schildwänden teilweise zu Jesuitenmonogrammen angeordnet sind.
Die nähere Beschäftigung mit dieser einzigartigen Reliquienkammer zeigt, wie fremd uns heute manche religiösen Praktiken aus vergangenen Jahrhunderten geworden sind.
Literatur
- Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Hamburg 2007.
- Bialostocki, Jan: Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden 1966.
- Laube, Stefan: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011.
- Urbanek, Regina: Die Goldene Kammer von St. Ursula in Köln. Zu Gestalt und Ausstattung vom Mittelalter bis zum Barock (= Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege, Bd. 76, hrsg. von Udo Mainzer), Diss., Universität Bonn 2007, Worms 2010.